Kurzmitteilung

Unschwer zu erkennen, dass die Posts in den letzten Wochen noch seltener geworden sind als zuvor. Seit sechs Wochen bin ich zurück in Deutschland und noch damit beschäftigt, mich in diesem eigenartigen Land wiedereinzuleben. Es gibt auch allerhand andere Dinge zu tun. Trotzdem wird es hin und wieder noch einen Einträg geben, als Nachklang meines Jahres in Moskau. Zu erzählen gibt es auf jeden Fall genug.

jenseits von Moskau 1: Kasan

Moskau ist eine Insel. „Wenn du das richtige Russland sehen willst, musst du in den Osten fahren“, sagt man hier. Das habe ich beherzigt und mich im Januar für drei Wochen auf den Weg gemacht, von Moskau in die Mongolei entlang der transsibirischen Eisenbahn. Ein paar Eindrücke aus den Weiten und Städten des größten Landes der Erde, in einer kurzen Serie von Blogposts.

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nicht der Bahnhof, trotzdem grau – das Unigebäude der Naturwissenschaften

Die Bahnsteige in Kasan sind sehr grau. Das ist schlecht, wenn man die Angewohnheit hat, Städte nach der Schönheit ihrer Bahnhöfe zu bewerten. Der Start von Kasan und mir ist also nicht der glücklichste. Umso sympathischer erscheint mir der russische Winter: Ich steige aus dem Zug aus, trage zwei lange Unterhosen übereinander, zwei Skiunterhemden, dazu T-Shirt und Pullover, Winterjacke und -schuhe und mehrere paar Socken. Es zeigt -38°, und ich denke – eigentlich voll okay. Die Kälte kratzt trocken aber angenehm die Wangen und der erste Atemzug fühlt sich an, als ob man nach einer stickigen Sauna klare Bergluft inhaliert.

Noch an Tag 1 kehren sich beide Einschätzungen ins Gegenteil: Kasan ist ziemlich schön und der russische Winter ein Arsch. Es ist einem nur so lange warm, wie auch die Kleidung warm ist, aber nach spätestens zwei Stunden hat die Kälte sich Schicht für Schicht bis zur Haut durchgefressen. Da hilft auch kein kurzes Aufwärmen im Café; man muss so lange warten, bis jedes Kleidungsstück wieder auf Zimmertemperatur ist. Im besten Fall schmilzt auch der Eisblock in der Wasserflasche so weit, dass man ein paar Schlücke nehmen kann. Gefrorenes Twix ist übrigens gar nicht so lecker, wie man immer denkt.

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links ein sozialistisches Arbeiterdenkmal, rechts der jahrhundertealte Eingang zum Kasaner Kreml

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Beginn der Bauman-Straße, die zum Kasaner Kreml führt

Kasan wird oft als must-see nach Moskau und Petersburg genannt; deutlich kleiner, aber nicht weniger schön. Zur Universale 2012 wurde die Stadt gewaltig aufgehübscht, die zentrale Bauman-Straße (улица Баумана) lädt zum possierlichen Flanieren. Geht man aber hinter den Prachtfassaden durch die Höfe merkt man schnell, dass das Geld nicht überall ankam.

Ich wohne etwas außerhalb des Zentrums, bei einem Couchsurfer namens Edward. Edward ist ein halbes Jahr jünger als ich und leitet, wie sich später herausstellt, seine eigene IT-Firma. Sie scheint nicht schlecht zu laufen, denn vor ein paar Wochen ist er in eine komfortable Neubauwohnung gezogen. Edward kam aus Tomsk nach Kasan, um eine Ausbildung zum Kunstflieger zu machen. Denn jeder Einwohner der Stadt kann kostenlos so eine Ausbildung absolvieren. Das gibt es nirgendwo sonst in Russland, sagt Edward. Woher das Geld kommt, frage ich – Von der Republik Tatarstan natürlich! Vom Öl!

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Öl ist das Hauptgeschäft in Tatarstan, auch wenn die Verkäufer auf diesem Autoflohmarkt nicht übermäßig davon profitieren.

Schon zu Sovjetzeiten gab es 20 autonome sozialistische Republiken (ASSR). Sie waren zwar Teil einer Sovjetrepublik (SSR), genossen aber eine Reihe von Sonderprivilegien. Die meisten ASSR wurden nach der Wende als autonome Republiken beibehalten und unter dem Namen ‚Subjekte der Russischen Föderation‘ in den russischen Staat überführt. Es gibt sie überall dort, wo eine nicht-russische Ethnie besonders präsent ist: in Tschetschenien, Dagestan, Karelien, Mordwinien, Burijatien usw. Seit März 2014 gehört die Krim nach russischem Recht ebenfalls zum Kreis dieser autonomen Subjekte, wird international aber von den wenigsten Staaten anerkannt.

Tatarstan ist unter allen autonomen Republiken die autonomste. Das liegt einerseits daran, dass Tatarstan viel Öl und damit gute Argumente besitzt, zum anderen ist diese Stellung ein Verdienst von Mintimer Schaimijev, der jahrzehntelang Präsident war (bis 2010). In den letzten Monaten der Sovjetunion gelangte er an die Spitze der ASSR Tatarstan. Nach dem Zerfall des Staatenbundes erklärte er seine Provinz kurzerhand für juristisch unabhängig. Schaimijev übte dadurch Druck auf Präsident Jelzin aus, der, um seine Position zu sichern, auf die Loyalität der regionalen Herrscher angewiesen war. Schaimijev konnte so für Tatarstan hervorragende Bedingungen aushandeln, bis heute bezahlt Tatarstan weniger Abgaben und bekommt mehr Zuschüsse als alle anderen. Beim Bau einer Metro z.B. schießt der russische Staat den Städten normalerweise 20% der Kosten zu – für Kasan übernahm Moskau die Hälfte.

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Tatarstan war schon immer eine ungewöhnliches Gebiet, auch in Bezug auf Religion: Seit dem Mittelalter ist es Zentrum des Islams in Russland. im Bild die Kul-Scharif-Moschee auf einer Hauswand und im Kreml.

Kasan ist also reich und schön, und dazu auch noch interessant. Wie an wenig anderen Orten in Russland mischen sich hier zwei Kulturen: die tatarisch-stämmige Bevölkerung (knapp über 50%), Anhänger des Islams, und die russische Ethnie, Teil der russisch-orthodoxen Kirche. In der ganzen Stadt stehen muslimische neben christlichen Gotteshäusern; im berühmten Kreml der Stadt prangt die wuchtige Kul-Scharif-Moschee neben der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale. Auf den Straßen weht wunderbare Multi-Kulti-Stimmung; Cafés verkaufen arabisches Essen nach dem russischen Stolovaja-Prinzip. Gelebte Toleranz, von der Russland und auch Deutschland (und die Schweiz!) lernen können.

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wie ein surreales Märchen: der Innenhof des Tempels aller Religionen

Am Tag meiner Abreise fahre ich mit Ksenija, einer anderen Couchsurferin, ein paar Kilometer raus aus Kasan. Dort steht ein kurioser Bau Symbol für die Toleranz der Kulturen. Eines Tages im Jahr 1992 hatte der Tatare Ildar Chanov eine Vision: „Ildar“, sagte eine Stimme zu ihm, „steh morgen um sechs Uhr auf, nimm einen Spaten und baue eine Kirche aller Religionen.“ Der Künstler und Wunderheiler Chanov war als Kind im Zweiten Weltkrieg klinisch tot, später befreite er Leonid Brezhnev von dessen Hämorrhoiden. Er hatte also schon einige Grenzerfahrungen hinter sich. Ildar Chanov fing an zu bauen, unbekannte luden Ziegelsteine vor seinem Grundstück ab, der lokaler Mafiaboss soll sogar eine Brigade zu Maurerarbeiten entsandt haben. Und so entsteht bis heute ein Gebäude mit Halbmonden, Kreuzen, Davidsternen, Yin-Yang und anderen.

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Zum Tempel und zu seinem wundersamen Erbauer Chanov pilgern Hilfesuchende aus ganzer Welt, um von ihren Krankheiten geheilt zu werden. Viele Drogensüchtige bleiben im Tempel und helfen, ihn fertigzustellen. Ksenija und ich kamen außerhalb der Sprechzeit, niemand war da außer einem Rudel Straßenhunde; Innenhof und Fenster verlassen.

Dafür öffnet sich von der Anhöhe ein Blick auf die Volga: weiß, zugefroren und wunderschön. An einem anderen Abend komme ich völlig durchgefroren in der Dunkelheit an einen Hügel und steige hinauf. Vor mir erscheint ein riesiges Flussbecken, das Kasan in seine zwei Stadtteile trennt. Und unter dem Eis liegt ein Leuchten, so als würden tausende Glühwürmchen unter der Oberfläche schwimmen. In diesen Momenten vergisst man die Kälte in den Handschuhen und denkt: So ein Arsch ist der russische Winter nicht.

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von der anderen Seite

Die Bewohner der Krim-Halbinsel stimmen heute ab, ob sie zu Russland oder zur Ukraine gehören wollen. Vielleicht eine weitere Wende im Ringen um die Ukraine. Eigentlich hatte ich nicht vor, so früh einen Kommentar abzugeben – aber die westliche Medienberichterstattung der letzten Tage besonders über Reaktionen von EU und USA erscheint mir doch recht fragwürdig. Darum eine subjektive Sicht von der anderen Seite.

Die Gesamtlage finde ich aufs Äußerste undurchsichtig. Es fällt schwer zu sagen, wer in welcher Sache Recht und wer ein Anrecht auf das das Gebiet der Krim hat. Von den Streitparteien werden jeweils unterschiedliche Argumentationen bemüht: Mit Blick auf die Historie bewerten viele die Schenkung der Krim an die Ukraine 1954 als Willkürakt. Dagegen steht, dass das Gebiet gut 150 Jahre zuvor von Russland erobert wurde. Hebt man die kulturelle Ähnlichkeit der Ukraine zu Russland oder zu Europa hervor, stellt sich die Frage, in wie weit eine homogene Bevölkerung eine Voraussetzung ist für ein funktionierendes Staatengebilde. Und besonders verfänglich sind die Verweise auf die juristische Legitimität der Vorgänge in der Ukraine.

Für das russische Staatsfernsehen sind die Dinge klar: Eine Gruppe radikaler Russlandhasser hat die ukrainische Regierung gestürzt. Die ‚Banderovzy‘ verehren geschlossen den ukrainischen Nationalisten und streitbaren Freiheitskämpfer Stepan Bandera, der zur Zeit des 2. Weltkrieges mit den Nazis gegen die Sovjets kollaborierte. Nun will das Regime in Kiev einen isolierten Staat errichten und die ehemaligen Schwestervölker Russen/Ukrainer voneinander entfremden. So erklärt sich das Bemühen Russlands, den ehemaligen Genossen zur Seite zu treten und sie vor rechtsextremistischer Unterdrückung zu schützen. – Soweit die in sich durchaus schlüssige Darstellung des Kremls.

der verrückte Herr Putin

In den westlichen Medien ist die Sicht natürlich eine andere. Oft wird das Handeln Russlands durch den Charakter von Vladimir Putin erklärt, der angeblich seinen Macht- und Kriegsphantasien freien Lauf lassen will. Genau darin liegt aber ein großes Problem: Denn genauso wenig wie Putin lupenreiner Demokrat ist, ist er ein durchgeknallter Diktator. Diesen Eindruck befördert jedoch selbst die Bundesregierung: „Appell an die politische Vernunft Russlands“, so wird Merkels Regierungserklärung zur Lage in der Ukraine betitelt. Abgesehen von der Dehnbarkeit des Begriffes ‚politische Vernunft‘ – wieso bestimmt die Bundesregierung, was für ein anderes Land ‚vernünftig‘ ist? Als säße da jemand im Kreml, der völlig wahnsinnig geworden irrationale Befehle erteilt. So eine Darstellung leugnet zum einen die taktische Schläue, mit der Putin agiert; zum anderen verstellt sie den Blick auf möglicherweise berechtigte Interessen der Russischen Föderation.

Natürlich – die Politik der Regierung in Moskau ist mit unserem Verständnis in vielen Punkten nicht vereinbar, dazu gehört auch die militärische Besetzung der Krim. Nüchtern gesehen ist diese Invasion Ausdruck eines anderen Politikstils, womöglich, wie Merkel behauptet, eines Stils des 19. oder 20. Jahrhunderts. Der Einsatz militärischer Mittel und Bruch der UN-Charta wird zu Recht kritisiert, der Konflikt muss friedvoll behoben werden. Doch in den Lösungs- bzw. Sanktionsvorschlägen von EU und Bundesregierung wird auf die Interessen Russlands nicht im Geringsten eingegangen.

Man muss die russische Position zwar nicht gutheißen, aber sie ist nachvollziehbar. Mit dem Machtwechsel in der Ukraine hat Russland eine wichtige Partnerin verloren. Die neue Regierung distanziert sich scharf von Moskau, hat unlängst das russische Fernsehen verboten und wollte zwischenzeitlich Russisch als zweite Amtssprache abschaffen. Ein harter Rückschlag für die russische Föderation: Neben kulturellen Bindungen werden auch die Wirtschaftsbeziehungen durchtrennt, die Ukraine wird Teil des europäischen Markts. Erhard Eppler hat in einem lesenswerten Text für die SZ auch auf die sicherheitspolitische Dimension hingewiesen: Sollte die Ukraine der NATO beitreten, grenzt der mehrheitlich USA-geprägte Militärbund unmittelbar an Russland. Eine Aussicht, die dem Kreml verständlicherweise Unbehagen bereitet. Strategisch umso wichtiger ist deshalb der Marinestützpunkt für die russische Schwarzmeerflotte bei Simferopol, auf der Halbinsel Krim.

das Illegale im Illegalen

Was wollen die Krim-Bewohner selbst? Der neu gewählte Ministerpräsident Sergej Axjonov bat Putin selbst „um Hilfe bei der Sicherung von Frieden und Ruhe auf dem Gebiet der Krim“. Auch wenn diese Einladung vermutlich auf Drängen Moskaus einging – die russisch-stämmige Bevölkerungsmehrheit billigt die Soldaten größtenteils. Am heutigen Sonntag stimmt die Bevölkerung nun also ab über eine mögliche Angliederung als autonome Republik an die Russische Föderation, in einem Referendum beschließt die Krim ihre Zukunft. Möglicherweise. Denn EU und USA haben auch für die Durchführung der Volksabstimmung ‚Sanktionen‘ angekündigt, sie halten sie für juristisch illegal. Sie verstoße gegen ukrainisches Recht, das Provinzen eine autonome Abspaltung untersagt.

Ob die Wahl frei, gleich, gerecht, ohne Fälschungen abläuft – das gilt es zu prüfen, und es ist leider kaum wahrscheinlich. Aber grundsätzlich illegal? Die Ukraine hat eine Revolution erlebt. Revolutionen kann man gut oder schlecht finden, eines sind sie immer: nicht rechtmäßig. Viktor Jankukovich wurde gewaltsam aus dem Amt gehoben, die EU hat entschieden dabei mitgewirkt – durch Befeuerung der Maidanproteste, durch sofortige Anerkennung der in keiner Weise legitimierten Übergangsregierung, die von rechtsextremen Kräften gestützt wird. – Auch das mag man letztlich gut oder schlecht finden, aber es missachtete das ukrainische Recht. Woher kommt die Überheblichkeit der EU, mit der sie dem Krimparlament nun Rechtsbrüchigkeit vorwirft?

die Saubermänner des Westens

Wir sind oft stolz auf die Unabhängigkeit unserer Medien und ich selbst bin niemand, der irgendwo die große Verschwörung wittert. Aber dennoch fällt auf, wie unausgewogen die Medien im Ukraine-Konflikt berichten. Häufig werten sie die russischen Interessen als irrationale Machtansprüche, als Reliktdenken aus dem Zarenreich. Selbst wenn die Hauptanliegen Russlands benannt werden (Rohstoffhandel, gemeinsame Wirtschaftszone, Militärkooperation mit der Ukraine), bleiben die europäischen Interessen unreflektiert oder werden unter die Formel ‚ein friedliches Zusammenleben für alle‘ gebracht. Die EU hat es geschafft, ihre Außenpolitik als Wohlfahrtsveranstaltung für alle Beteiligten darzustellen. Sie sind die Saubermänner des Westens gegenüber den zur Kriegstreiberei neigenden USA. Brüssel hüllt sich in Gutherzigkeit, vertritt das Bild von Frieden und Meinungsfreiheit – und wirkt nicht zuletzt auch deshalb so attraktiv auf die Leute in der Ukraine. Die menschenfeindliche Flüchtlingspolitik an den Außengrenzen oder die Missachtung der Freiheitsrechte in Ungarn werden einfach ausgeblendet. – Es ist ein gefährliches Bild, weil es die wirklichen Interessen der EU verschleiert.

Für die EU bedeutet eine Inklusion der Ukraine viel mehr als die Verwirklichung der europäischen Idee: Es warten unerschlossene Gasreserven im Osten des Landes, die eine Abhängigkeit von Russland verringern, genau wie die vorteilhafte geographische Lage am Schwarzen Meer. Die Ukraine hat eine Bevölkerung von 45 Millionen Menschen, die einen hervorragenden Absatzmarkt für westliche Produkte bilden. Zwar soll auch die Ukraine in der Zukunft Waren nach Europa exportieren – aber bisher betrifft das vor allem Agrarerzeugnisse. Bis die Produktion von Industrie- und Verbrauchsgütern die (teils fragwürdigen) EU-Standards erfüllt, dürften Jahre vergehen. Genug Zeit für westliche Unternehmen und Banken, auf dem ukrainischen Markt Wurzeln zu schlagen (ähnlich geschehen in vielen Ländern Osteuropas; wer schon mal dort war, kennt die erstaunliche Dichte an ausländischen Konzernen). Die Finanzpakete von EU, USA und IWF sollen bei wirtschaftlichen Reformen helfen, schaffen aber gleichzeitig immense politische Abhängigkeit wie derzeit in Griechenland oder Irland. Auch militärische Aspekte motivieren die EU-Politik: Gelingt es, die Ukraine in den Einzugskreis der EU und später der NATO zu überführen, gewinnt der Militärverbund gegenüber Russland weiter an Übermacht.

Das vehemente Engagement der EU gegen eine Grenzverschiebung auf der Krim hat noch einen weiteren Grund: das Budapester Memorandum. Darin wurde 1994 festgelegt, dass die Staaten Kasachstan, Belarus und Ukraine auf Atomwaffen verzichten. Im Gegenzug wurde ihnen von Großbritannien, Russland und den USA territoriale Integrität garantiert. Gelingt es der EU und den USA nicht, die Krim an die Ukraine zu binden, hätten solche Vertragsgarantien in Zukunft keine Bedeutung mehr. Die Verhandlungsposition der EU würde geschwächt, etwa gegenüber Staaten wie der Republik Moldau oder Georgien, die sich beide in Gebietsstreitigkeiten mit Russland befinden.

All diese Interessen der EU sind ja prinzipiell berechtigt – aber die Öffentlichkeit muss über sie informiert sein, um die Konfliktlage einschätzen und bewerten zu können. Stattdessen tut man, als wolle allein Russland Vorteile aus der Ukraine ziehen. Oder Präsident Putin wird von vornherein verrückt erklärt.

zwei Seiten, ein Graben

Ich lebe nun seit knapp sieben Monaten in Putins Russland. Das ist nicht allzu lang, dennoch gab es genug Anlässe, seinetwegen zu verzweifeln. Ich habe aber auch gemerkt, dass Russlands Interessen nicht unbedingt nur die Interessen Putins sind. Dass sie durchaus im Sinne des Landes sein können. Viele meiner russischen Freunde und Bekannten hier wünschen sich eine enge Beziehung zur Ukraine: Nicht aus alt-imperialistischen Großmachtsgefühlen heraus, sondern weil sie sich ein Russland wünschen, das wirtschaftlich prosperiert, das gute Beziehungen zu seinen Anrainern unterhält und das auch militärisch Partnerschaften eingeht. Wünsche, denen man ihre Legitimität kaum absprechen kann. Dem Kreml wird gerne das Nullsummenspiel als politische Maxime unterstellt, aber hier wurde mir bewusst, wie ich selbst dieser Logik folgte: Wir, Europa, sind die Guten, und man muss versuchen, die Länder aus den Fängen des Putinschen Einflusses zu entreißen.

Es sind diese zwei Lager, von denen die meisten Medienberichte ausgehen – wir oder die anderen. Der Graben wird immer tiefer und die EU schaufelt fleißig mit: Das Assoziierungsabkommen untersagt wirtschaftliche Kooperationen mit Russland und drängt deshalb die Ukraine (aber auch z.B. Armenien) in die Entweder-Oder-Ecke. Dass diese Methode in der ethnisch zweigeteilten Ukraine zu Problemen führt, war leicht vorauszuahnen. Das Traurige: Gerade deshalb hätte das Land zu einem Mittler zwischen Russland und der EU werden können. Aber offensichtlich war das von keiner Seite erwünscht. Egal wie die Wahlen auf der Krim heute ausgehen – diese Chance ist erstmal verspielt.

zwischen Moskau und der Mongolei

So lange man lebt soll man reisen, das wusste schon Helmut Körschgen. Meine fünf freien Wochen in Russland nutzte ich deshalb für eine Fahrt nach Paris – und eine Reise in Russlands Osten. Bis dahin hatte ich Europa noch nie verlassen und fand den Gedanken reizvoll, in der transsibirischen Eisenbahn die Grenze elegant zu durchgleiten. Als erstes stelle ich jedoch fest, dass es „die Transsib“ im Sinne eines Zuges gar nicht gibt, sondern damit allein die Schienentrasse von Moskau nach Vladivostok gemeint ist. Danach merke ich, dass auch der Grenzverlauf zwischen Asien und Europa ziemlich schwierig zu bestimmen ist. Im Norden gilt das Uralgebirge als Trennlinie, aber die Transsib verläuft südlich. Meine Recherchen, wann genau ich nun den neuen Boden begrüßen dürfte, bleiben erfolglos. Als ich später – irgendwo im Zug bei Novosibirsk – einen Russen frage, ob wir uns denn nun allmählich in Asien befänden, antwortet er verwirrt: „Wie meinst du das? Du bist in Russland!“

Mongolei

die mongolische Steppe, irgendwo zwischen Ulan-Ude und Ulaanbaatar

Die Kontinentalgrenze hält sich also weiterhin verborgen. Dafür mache ich eine andere, erstaunliche Entdeckung, als ich die Bahnstrecke vorsorglich schon mal mit GoogleMaps abfahre: die Mongolei – sie existiert wirklich. Direkt unterhalb von Russland. Bis dahin kannte ich das Land nur als mittelalterliches Reiterreich und hielt es für längst untergegangen. Offenbar genügen nächtliche Geschichtsdokus nicht als Grundlage für eine gesunde Allgemeinbildung. Ich schäme mich für mein Unwissen und beschließe meine Reise in der Mongolei enden zu lassen, als kleine Wiedergutmachung sozusagen. Das mit dem jenseits-von-Europa-Sein sollte dann auch endgültig abgehakt sein.

Und umso mehr erscheint mir die Tour nun als handfestes Abenteuer: von Moskau aus 5000 Kilometer mit dem Zug zum Image
Bajkal-See, anschließend mit dem Bus nach Ulaanbaatar, in die Hauptstadt der Mongolei. Eine Fahrt durch fünf Zeitzonen; durch die autonomen Republiken Tatarstan und Buriatien, den Ural (der nicht allein aus der Bergkette besteht) und natürlich durch das Hauptquartier des russischen Winters – Sibirien.

Meine russischen Bekannten (Zimmernachbar Fritz zählt für mich dazu) finden die Idee zwar gut, aber weit weniger tollkühn als ich. Und weniger kreativ. „Ich fahre dann mit der transsibirischen Eisenbahn“, setze ich an – „und dann mit dem Bus in die Mongolei“, vervollständigen sie meinen Satz. Ich schaue fragend –; „alle Deutschen machen das. Weiß auch nicht wieso.“
Während meiner Reise dasselbe: „Du bist Ausländer?“ – „Ja, aus Deutschland.“ – „Ach so, auf dem Weg in die Mongolei.“

Was wollen all die Deutschen in der Mongolei? Zwei Vermutungen:
1. Deutsche brauchen in der Mongolei bis zu 30 Tage lang kein Visum. Diese Regelung gilt nicht für andere Schengen- oder EU-Mitglieder, dafür aber für Länder wie Laos, Hong Kong, Cuba, die Philippinen und die Sonderverwaltungsszone Macau in China. Deutschland ist Teil dieser illustren Runde, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel vor zwei Jahren Ulaanbaatar besuchte; als erstes Staatsoberhaupt der BRD überhaupt. Sie ermöglichte eine Reihe von Milliardenverträgen zwischen der Mongolei und deutschen Großunternehmen (warum Merkel die Lobbyarbeit der Wirtschaft übernimmt, bleibt ihr Geheimnis) – und nebenbei sprang für die deutschen Staatsbürger_innen eine Visabefreiung bei Aufenthalten bis zu einem Monat heraus. (Für Mongol_innen hat sich leider nichts geändert.)

2. Neben der Einreiseerleichterung genauso wichtig ist wohl das Wirken von Ralph Siegel. Der Musikproduzent hat mit seiner Gruppe „Dschingis Khan“ und dem gleichnamigen Erfolgshit ein kulturelles Denkmal für den mongolischen Feldherrn und sein Gefolge geschaffen. Für alle, die ihre Mundorgel gerade nicht parat haben:

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Dschingis Khan: Mythos, Feldherr, Inspiration – nicht nur für deutsche Schlagerproduzenten

Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht
Und über seine Feinde hat er nur gelacht […]
Lasst noch Wodka holen (Ho, Ho, Ho, Ho, Ho)
Denn wir sind Mongolen (Ha, Ha, Ha, Ha, Ha)
Und der Teufel kriegt uns früh genug!

Wen bei solchen Versen nicht die Reiselaune packt, der/dem kann ich nicht helfen. Die Mongol_innen selbst übrigens haben – wenn sie nicht gerade Wodka holen – ihren Urahnen auch gut im Gedächtnis behalten: Es gibt etliche Dschingis-Khan-Straßen, der internationale Flughafen trägt seinen Namen und Dschingis‘ volle Leibespracht ziert die Frontseite des Nationalparlaments.

Bis ich dem Führer der Goldenen Horde gegenübertreten durfte, machte ich für je drei oder vier Tage in verschiedenen russischen Städten Halt: in Kazan (die muslimisch geprägte Hauptstadt von Tatarstan), Ekaterinburg (hier wurde der letzte Zar ermordet), danach Novosibirsk (ehemals sovjetische Forschungshochburg, heute Hauptstadt von Sibirien); von Irkutsk aus fuhr ich auf einen Abstecher zur  Schamaneninsel Olchon im Bajkalsee. Und schließlich begrüßte mich als letzte russische Stadt Ulan-Ude mit dem größten Leninkopf der Welt. Warum auch nicht.

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so siehts aus im Platzkarta-Abteil. die russische Eisenbahn will es gerne abschaffen; es sei ein „Anachronismus“ (Foto timag82.livejournal.com)

Auf den Wegen dazwischen das endlose Russland, wie man es sich vorstellt: Eisstürme, zugefrorene Seen wie weiße Meere, kleine Siedlungen und ein ruhiger Strom von Birkenwäldern fliehen vorüber. Und während die Schlafwagons so durch die Weiten stampfen, sieht man sich um im Abteil und versteht vielleicht ein wenig davon, was die Eisenbahn für dieses riesige Land immer noch bedeutet: Mittel des steten Fortschreitens, Widerstand gegen die brausende Natur, ein Raum der Begegnung. In jedem Großabteil gibt es 54 schmale Liegen, auf denen die unterschiedlichsten Menschen Platz finden. Man trinkt Tee an kleinen Tischen, schaut in die Landschaft und kommt irgendwann ins Gespräch.

Ich höre die Geschichte von einem Vater, dessen Tochter schwer erkrankt ist und für die er einen Arzt in Moskau aufgesucht hat. Ein anderer zeigt mir unzählige Bilder von seiner Arbeit, die darin besteht, in Russlands Norden gigantische Lastwagen zu befreien, die versunken sind in Eis und Schnee. Später hören wir zusammen alte, melancholische Armeelieder. Und da ist der alte Mann mit rauem Gesicht und Raucherstimme; in Sovjetzeiten tourte er als Sänger mit seinem Soloprogramm durchs ganze Land, erzählt er. Aber weder von Geld noch vom Ruhm sei ihm viel geblieben, Inflation, das neue Russland, so ist es halt. Die Geschichte hat immer Recht, sagt er. – Lauter verschiedene Leute in verschiedenen Situationen und mit verschiedenen Zielen. Aber für ein paar Stunden und Nächte begleiten sie sich.

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der Bahnhof von Irkutsk

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Wandern durch die russischen Wälder bei Novosibirsk, mit meinem Couch-Host Evgenij

Morgens komme ich in der Stadt an und folge dem immer selben Ablauf: Ich kaufe Wasser und die Fahrkarte zur nächsten Stadt. Dann gehe ich auf den Bahnhofvorplatz für einen ersten Eindruck, besorge eine Karte und rufe die Menschen an, die mich für die nächsten paar Tage aufnehmen wollen – Hosts, die ich mehr oder minder kurzfristig über couchsurfing gefunden habe. Sie zeigten mir ihre Städte, stellten mich ihren Freund_innen vor und erzählten mir die buntesten Geschichten. Zu viele, um sie alle jetzt aufzuschreiben – darum werde ich in der kommenden Zeit zu jeder Stadt einen kurzen oder längeren Eintrag verfassen. Auch für den Fall, dass jemand auf die Idee kommt, selbst in Richtung Mongolei zu reisen. Soll ja beliebt sein in Deutschland.

Nachtgespräche

Man muss sich ja oft ärgern in diesem Land. Über die Politik, die Behörden, die Medien. Aber manchmal kommt es mir vor, als sei das Schlimmste das, was in den Köpfen vieler Russen vorgeht. Die Intoleranz, Ignoranz und Verurteilung all dessen, was nicht in ihren kleinen Kosmos passt; die Abwertung des Fremden gegenüber einem diffusen Nationalgefühl. Ein Beispiel.

Es ist unter der Woche, meine 3 deutschsprachigen Flurgenoss_innen und ich haben uns mit russischen Bekannten verabredet. Wir treffen uns in einer der Bars, die neben den teuren West-Marken auch ‚Hausbier‘ anbieten – eine preiswerte, wenn auch in der Zusammensetzung oft obskure Alternative. Die Stimmung ist gut, irgendwann beginne ich eine Unterhaltung mit einer Russin schräg gegenüber, nennen wir sie Masha. Nach einigem Smalltalk fragt sie nach Studienbedingungen in Deutschland, schließlich nach sozialen Lage. Wir hätten doch bei uns viele Araber und Türken, die würden doch auch Probleme machen, Arbeitsplätze, Gewalt und so.

Mir ist klar worauf sie hinaus will, inzwischen habe ich es oft genug gehört. Anfangs habe ich mich noch gewundert, weshalb so viele Leute über die Migrationssituation in Deutschland reden wollen. Relativ schnell wird aber jedes Mal der Bogen geschlagen zu den Einwanderern in Russland – zumeist Menschen aus den ehemaligen Sovjetrepubliken, die i.d.R. von der Regierung selbst mit hohen Lohnversprechen in das Land gelockt werden. Hier angekommen, werden sie oft illegal beschäftigt und für harte Knochenarbeit miserabel bezahlt.

Sehr viele Russen – selbst viele mit liberaler Haltung – stehen ihren ehemaligen Brüdern und Schwestern heute mit großer Ablehnung gegenüber. Das Wahlprogramm des Kreml-Kritikers Alexej Navalnij beinhaltete als ersten Punkt die sofortige Ausweisung aller Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis. Tatsächlich gibt es Probleme – die ‚gastarbajter‘ werden kaum integriert, viele sprechen nur brüchig russisch. Zu Hunderten hausen sie illegal in unterirdischen Siedlungen – in einigen Fällen sogar mit ganzer Infrastruktur,  Saunas und Viehgehege. Armut grassiert unter den Zuwanderern, entsprechend größer ist die Neigung einiger zur Kriminalität. Wenn dann, wie vergangenen Oktober in Birjuljovo, ein mutmaßlicher Mörder dem Typ nach kaukasisch aussieht, finden sich die Leute in ihren fremdenfeindlichen Ansichten bestätigt.

Und so möchte auch Masha solidarische Bekundungen von mir hören, denn wie sie weiß, ist die Situation in Deutschland auch schwierig, die Ausländer würden sich ebenso schlecht benehmen. Ich versuche, den Nationalitätsaspekt zu relativieren, erzähle vom Zusammenhang von Kriminalität und Armut; von gescheiterter und erfolgreicher Integrationspolitik, von den Pflichten, die eine Gesellschaft den Menschen gegenüber hat, die für sie arbeiten und in ihr leben. Das alles beeindruckt Masha nicht sonderlich, sie bleibt dabei: alle abschieben.

Ich versuche, das Gespräch auslaufen zu lassen. Das klappt nicht, dann eben auf Allgemeinplätze ausweichen. Reisen. Wir kommen auf Amsterdam. Sie fand den Rotlichtbezirk ganz toll, und die slavischen Frauen hinter den Scheiben seien ja wohl die schönsten. Ich wundere mich kurz, aber gut – als richtige_r Patriot_in ist es eigentlich nur konsequent, den Nationalstolz auf sämtliche Milieus auszudehnen. Was ist schon Zwangsprostitution.

Ich sage, dass viele Niederländer und Amsterdamer nicht unbedingt glücklich sind über das Bild im Ausland als Nutten- und Drogenstadt. „Stimmt“, meint sie, „und dazu noch die ganzen Schwulen.“
Innerlich stöhne ich auf und überlege, ob ich nachhaken soll. Ich bin müde und wenig streitlustig, außerdem inzwischen ziemlich sicher, dass bei meinem Gegenüber auch mit besten Argumenten keine Gedanken zu erzeugen sind. Auf der anderen Seite finde ich es traurig und nicht richtig, so eine Aussage im Raum stehen zu lassen. – Die Kellnerin hilft bei meiner Entscheidung, sie bringt Getränke und neue Gespräche ergeben sich. Ich versuche, Masha zu meiden.

Dann wechseln wir die Bar, und auf der Straße fängt sie mich doch wieder ein. Ob ich eine Freundin habe, „ja“ sage ich, ob sie auch in Berlin wohnt, „nein“ sage ich, „zurzeit in Paris.“ – „Paris!“ sie ist begeistert. „Da war ich auch mal. Tolle Stadt. Aber eine Sache hat mich da ziemlich gestört.“ Ich bin auf vieles gefasst, aber nicht darauf: „In der Metro habe ich ein Ehepaar gesehen, mit Kindern. Die Frau war Französin – und der Mann ein Schwarzer! Das fand ich schlimm.“
War ich vorher nicht in Streitlaune gewesen, bin ich nun so perplex, dass ich einfach nur hoffe, etwas falsch verstanden zu haben. Hab ich nicht. Wie zynisch fügt sie hinzu, dass die Kinder des Ehepaars erstaunlich hübsch aussahen. „Mulatten, kennst du das Wort?“

Rechtes Gedankengut wird es immer geben. Aber Masha ist nicht arm, nicht perspektivlos, sie hängt nicht mit Nazis ab. Eine Mittzwanzigerin aus der Mitte der Gesellschaft. Wie bekommt man da solche Ideen? – Unter anderem durch die Medien. Vor kurzer Zeit wurde Russlands größte staatliche Nachrichtenagentur, RIA Novosti, von Putin in einer Nachtaktion zerschlagen. Die Berichterstattung schien ihm oft zu kritisch. Nun wird eine neue Staatsagentur eröffnet mit dem Namen „Russland Heute“, an deren Spitze tritt Dmitrij Kisiljov. Dieser Kisiljov hat in einer Talkshow öffentlich gefordert, Schwulen das Blutspenden zu verbieten – und im Falle eines tödlichen Autounfalls solle man „ihre Herzen vergraben oder verbrennen, um sie für ein Fortleben unbrauchbar zu machen“. Dieser Mann ist bald der mächtigste Journalist Russlands.

Woher soll man Toleranz lernen, wenn man ausschließlich den Staatsmedien folgt? Und ich finde, man kann nicht einer/m jeden vorwerfen, sich nicht auf die Suche nach unabhängigen Medien zu begeben – denn so leicht zu finden sind diese auch wieder nicht. Der klassische Teufelskreis – die Medien verdummen die Menschen, und den Menschen fehlt die Weitsicht, diesen Mangel zu bemerken. Wie man dort hinausfindet, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich persönlich nicht auf lange Zeit in einer so rassistischen und ignoranten Gesellschaft leben könnte.

Masha war zum Glück ein Extremfall an Rassismus, dem ich bis dahin auch nicht begegnet bin. Ich frage noch, ob sie denn nicht fände, dass Leute mit schwarzer Hautfarbe Menschen seien wie wir – „Doch, Menschen schon, aber ich finde, man sollte das getrennt halten. So viel Vermischung ist nicht gut.“ Dann möchte sie wissen, ob meine Freundin denn weiß sei. Ich bereue immer noch, nicht gesagt zu haben: „ach weißt du … eigentlich ist sie schwarz und männlich.“

Zeit und Arbeit in Moskau

Länger als einen Monat liegt der vorherige Post in diesem Blog zurück. Das beschämt. Dabei gab es durchaus Dinge zu erzählen: Der erste Schnee ist gefallen. Ein Riesenkoffer erschien auf dem Roten Platz und wurde auf fragwürdige Weise wieder entfernt. Russlands Präsident Vladimir Putin hat versucht, einige GUS-Staaten mit erpresserischen Methoden (Gasversorgung, Einfuhrzölle, Importboykotts) von einer Annäherung an die EU abzuschrecken. Bei einigen war er erfolgreich (z.B. Armenien), bei anderen weniger (z.B. Moldawien) und die Ukraine steht darum vielleicht vor ihrer zweiten Revolution in zehn Jahren. Genug Material war also da – aber ich hatte keine Zeit. Beziehungsweise, ich habe sie mir nicht genommen. Das muss man nämlich, weil sie sonst völlig unbesehen vergeht. Ein Montag jagt den anderen, eine wieder neue Woche bricht an. Gefühlt ist es auch ständig Abend. Wo bleibt die ganze Zeit? Na klar, im Auslandsstudium, die ganzen Erfahrungen, ja ja. Es gibt aber noch andere Faktoren. Moskau ist groß. Will man irgendwo hin fahren – ins Kino, zum großen Supermarkt, auf den roten Platz – sind 45 Minuten oft zu wenig. Dabei haben wir noch Glück: Unser Wohnheim liegt direkt am U-Bahn-Ring, über ihn gelangt man schnell in alle Himmelsrichtungen. Wer weiter außerhalb lebt – und das tun die meisten in Moskau – verbringt viel mehr Zeit im ÖPNV: Vorortszüge (Eletritschka), Trolleybusse oder Marschrutkas (eine Mischung aus Taxi und Kleinbus) verbinden die abseitigen Gebiete mit dem Metro-Netz. Einige Kommiliton_innen von mir brauchen für den Weg zur Uni drei Stunden. Und noch einmal so lange zurück. Auf der anderen Seite: So groß ist Moskau nun auch wieder nicht. In einer knappen Stunde kann ich zum Kreml laufen und der U-Bahn-Ring ist deutlich enger und schneller als die Ringbahn in Berlin. Und vor zwei Jahren war Moskaus Fläche auch kaum größer als die von Berlin – 1 070km² zu 892km². Im Zuge einer undurchsichtigen Gebietsreform wurde zum 1. Juli 2012 Moskaus Stadtgebiet um 150% erweitert. Bis 2020 sollen dort neue Wohnanlagen und Beamtensiedlungen entstehen, auch ein neues Regierungsviertel ist im Gespräch. Kosten: etwa 70 Milliarden Euro.

Stau in der Metro

obwohl die Züge in der Stoßzeit mindestens minütlich fahren, kommt es oft zu Menschenstaus. das dauert dann eine Weile. (Bild von kvartirant.by)

Diese Entlastung täte der Stadt allerdings ganz gut. Während in Berlin 3,4 Millionen Menschen leben, sind in Moskau 12 Millionen registriert. Dazu kommen laut Schätzungen weitere 2-5 Millionen Migranten, die nicht offiziell gemeldet sind. Die meisten von ihnen suchen nach Arbeit. Und davon gibt es in Moskau so viel wie nirgendwo sonst: Im Juli diesen Jahres sollen nur 25 561 Menschen ohne Anstellung gewesen sein. Solche Zahlen locken an, vor allem die Einwohner ärmerer Post-Sovjetstaaten. Von dort kommen sie als ‚gastarbajter‘ nach Russland und nehmen niedrig bezahlte Jobs an – häufig illegal, ironischer Weise direkt bei der Stadt (z.B. Straßenreinigung) oder bei staatlichen Bauprojekten. Einen Teil ihrer Einkünfte schicken die Arbeiter an ihre Angehörige in der Heimat. Ein riskantes Prinzip: In Südkirgisistan etwa stieg die Kaufkraft der Menschen deutlich schneller, als die eigene Wirtschaft wuchs. Als nach der Wirtschaftskrise der Geldfluss aus Moskau abnahm, konnten viele Familien ihre Grundversorgung nicht mehr bezahlen, weil die Preise zu hoch waren. Ein Missverhältnis, das die blutigen Unruhen im Jahr 2010 mit hervorrief. (Übrigens werden auch die gigantischen Bauarbeiten für die Winterolympiade in Sochi zum Großteil von illegalen Arbeitskräften ausgeführt; häufig werden sie danach um ihren Lohn geprellt – mehr dazu in der ARD-Doku Wenig Brot trotz teurer Spiele.) Die hohen Gehälter ziehen aber auch russische Staatsbürger an aus Gebieten, die ärmer sind als Moskau (und das sind de facto alle). Darum gilt Moskau bei den Russen als Inbegriff der Mühsal, Gier und Hektik. Wer hier wohnt, habe sich für das Geld und gegen ein schönes Leben entschieden. Oder, wie es meine Russischlehrerin sagte, als wir über positive und negative Seiten dieser Stadt sprachen: „der Nachteil: Ich hasse Moskau. der Vorteil: Hier gibt es Arbeit.“

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ein Garten im Zarensitz Kolomenskoje

Moskau ist also groß, voll und hektisch. Leider ist es auch noch wahnsinnig interessant. Zum allgemeinen Stress kommt das Gefühl, ständig etwas zu verpassen – Events, Ausstellungen, Theater, Filme, Diskussionsabende. Es ist darum eine Wohltat, dass es auch andere Dinge gibt – Bäume, riesige Parks, eine Art Natur. Zum Beispiel der Zarensitz Kolomenskoje, der sich im Winter in ein Schneemärchen verwandelt. An solchen Orten vergisst man das Rauschen der Metropole, und je länger man dort zubringt, so mehr freut man sich schließlich wieder auf die Vorzüge der Stadt. Darum habe ich also über einen Monat keinen Blogtext mehr verfasst: Ich war spazieren, in der Metro oder in der Supermarktschlange im Feierabendchaos. Dazu kommt, dass ich seit kurzem an zwei Tagen pro Woche im Moskau-Büro der Heinrich Böll Stiftung arbeite, als Praktikant; und zuletzt habe ich eine Hausarbeit für die russische Uni geschreiben. Darüber (über Uni in Russland, nicht über die Hausarbeit) bald mehr, in hoffentlich weniger als einem Monat.

eine Böschung mit Bäumen und ohne Menschen, mitten in Moskau

Böschung mit Bäumen und ohne Menschen, mitten in Moskau

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Предтеченский Храм, eine Kirche über Kolomenskoje

Freiheit der Demonstranten

Man kennt die Bilder von Anti-Kreml-Protesten: riesiges Polzeiaufgebot, reihenweise Festnahmen, Sicherheitskräfte schlagen auf Demonstranten ein. So war es am 6. Mai 2012, dem Tag vor der erneuten Einführung Vladimir Putins in das Amt des Präsidenten. Zwischen 50 000 und 100 000 Menschen sollen sich an den Protesten beteiligt haben. Am Болотная Площадь (Bolotnaya Platz) eskaliert die Situation: Aus der Menge fliegen Steine, die Polizei und vor allem die Spezialeinheit OMON greifen scharf durch. Viele vermuten hinter den Ausschreitungen regimetreue Provokateure:

„Vor meinen Augen haben Männer in schwarzen Trainingsanzügen und mit schwarzen Masken von hinten die Kette der OMON durchbrochen, haben sich zu den Demonstranten gesellt, Steine geworfen und sind dann wieder hinter den OMON-Leuten verschwunden. Und das mehrfach.“
Сергей Шаров-Делоне/Sergej Sharov-Delaunay, Augenzeuge

Heute sitzen 15 Teilnehmer_innen noch immer im Gefängnis, einige von ihnen nur wenig älter als zwanzig. 9 weitere stehen unter Hausarrest oder dürfen ihren Wohnort nicht verlassen. Die Anklage: ‚Teilnahme an Massenunruhen‚, bei einigen dazu ‚Gewaltanwendung gegenüber Staatspersonen‚. Seit eineinhalb Jahren warten sie auf ihren Prozess. Damit sie nicht vergessen werden, organisiert die Putin-Opposition regelmäßig Veranstaltungen (auf dieser Seite kann man sich auch auf deutsch informieren und spenden). Am vergangenen Sonntag wurde nun zum Protestzug gerufen: „за свободу узников 6 мая! За свободу всех политзаключенных!“ – für die Freiheit der Gefangenen vom 6. Mai; für die Freiheit aller politischen Häftlinge!

Mein Kommilitone Fritz und ich beschlossen, uns anzuschließen; meine erste Demo in Russland stand bevor. Ich war gespannt – welche Leute tauchen dort auf? Wie verhalten sich die Ordnungskräfte? Ist irgendeine Seite womöglich gewaltbereit? Ich überlegte sogar kurz, meine Kamera sicherheitshalber zuhause zu lassen. Als wir um 14 Uhr am Treffpunkt nahe der Metro Puschkinskaja ankamen, standen dort kaum Demonstranten. Dafür umso mehr Polizei, die eifrig Leibesvisitationen durchführte – in Moskau jedoch nichts Besonderes; auf Volksfesten, in Einkaufszentren, Kunstausstellungen gibt man sich gern die Ehre. Nach und nach scharten sich Demonstranten auf dem Platz, es wurden Unterschriften für einen Amnestieersuch gesammelt, die interessierte (kritische) Presse führte Interviews.

Gegen 15 Uhr setzte sich die Menge in Bewegung, inzwischen war sie zu einem recht großen und bunten Haufen gewachsen. Darunter waren Oppositionsparteien (‚Jabloko‘, ‚Partei des 5. Dezembers‘), NGOs wie Amnesty oder Greenpeace, Mitglieder der LGBTI-Szene, die kommunistische ‚Linke Front‘ und zu meiner Verwunderung auch Nationalisten. Und so wurde nicht nur für die Bolotnaja-Gefangenen demonstriert, sondern auch für die Freilassung der Greenpeace-Aktivisten und von Pussy Riot, für Michail Chodorkovskij und den inhaftierten Bürgermeisters von Jaroslavl. Das allgemeine Motto: Freiheit den politischen Häftlingen!

Größere Zwischenfälle gab es nicht, die Polizei hielt sich zurück, OMON-Leute waren kaum zu sehen. Auch die Atmosphäre unter den Demonstranten war entspannt, mit Losungen wurde nach Freiheit und gegen Putin gerufen. An der Metro-Station Чистие Пруды (‚Chistie Prudy‘ – saubere Teiche) ging der Protestzug unspektakulär zu Ende, eine Kundgebung hatten die Behörden nicht erlaubt.
Laut Schätzungen haben über 5 000 Menschen an dem Marsch teilgenommen. Verglichen mit den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen 2012 eher wenig. Aber man muss bedenken, dass es kein konkretes Ereignis gab, welches die Wut der Massen aufgerührt hätte: Alexej Navalnij etwa wurde zuletzt nicht, wie von vielen befürchtet, zu einer langen Haftstrafe verurteilt, sondern kam auf Bewährung frei. Am Sonntag nahm er selbst teil an der Demonstration, die im Übrigen recht kurzfristig und unproblematisch genehmigt wurde. Fährt die Regierung neuerdings auf Kuschelkurs? Auf jeden Fall kann die Opposition solche Veranstaltungen nutzen, um sich ihrer selbst zu vergewissern: 5 000 Menschen, die ohne aktuellen Auslöser einen ganzen Sonntagnachmittag lang durch Moskau laufen, sind am Ende doch nicht so wenig. Man muss sich nur vorstellen, es gäbe einen Anlass wie die Wahlfälschungen im letzten Jahr – und jede/r der 5 000 bringt seine Freunde mit.

Schande Putin

‚Die Gefangenen des 6. Mai – Schande über Putin!‘

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Polizeikontakt während der anfänglichen Sicherheitskontrolle (o. rechts) und beim Info-Service (u. rechts). ansonsten blieben die Einheiten hinter ihren Käfigtüren; o. links langweilen sich zwei Omonovzy. über dem Protestzug kreist ein Helikopter.

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Reporter des unabhängigen TV-Senders „Dozhd“: links geht Timur Olevskij einfach aber effektiv auf live-Schalte, rechts winken Pavel Lobkov und Maria Baronova vom Balkon.

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Greenpeace-Aktivisten verteilen Solidaritätsschiffe aus Papier

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Mitglieder der Linken Front (Левый Фронт)

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amnesty international fordert Gerechtigkeit für die Gefangen vom Bolotnaja Platz

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‚Dekabristen hielten zusammen – so auch jetzt!‘ die Partei des 5. Dezember befindet sich noch im Prozess der Registrierung

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auch Nationalisten mischten sich unter die Demonstrierenden, sie fordern die Freilassung von ihrem Gleichgesinnten Danijl Konstantinov; ihm wird Mord angelastet. hier führen sie Flagge und Wappen der ehemaligen anti-bolschewistischen ‚Don-Republik

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hinter der Polizeiabsperrung wird der Protestzug von ominösen Gestalten gefilmt

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mutige Demonstranten zeigen die Flagge der LGBTI-Bewegung – vor der Zentrale der Ölfirma LUKOIL

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ein Ballon für Evgenij Urlashov, regierungskritischer Bürgermeister von Jaroslavl, derzeit im Gefängnis.

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ein Pinguin (rechts mit Telefon)

kulturloses Essen

Wer ins Ausland fährt, muss hin und wieder feststellen, dass einiges dort anders ist. In vorderer Reihe: Lebensmittel. Das Anrecht auf Vollkornbrot tritt man bekanntlich an der deutschen Außengrenze ab, von Döner bzw. Falafel kursieren nur schwache Imitate. Meistens entschädigen die landesüblichen Spezereien natürlich den Verzicht. Davon hat Russland ein breites Aufgebot: Suppen (Borschtsch, Soljanka), vielfältige Teigtaschenvariationen (Piroggen, Pilmeni), Pfannkuchen (Bliny) und eine Armada von Dessertspeisen.

Vor meiner Abreise machte ich mir deshalb eher Gedanken um den ‚Stil‘ meiner Ernäherung. Selbst mein inkonsequenter Vegetarismus aus Berlin würde in Russland schwer durchzuhalten sein: In jedes herzhafte Gericht wird bedenkenlos Fleisch gemischt, Debatten um gesunden Verzicht oder Massentierhaltung gibt es kaum. Nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln und kontrollierter Anbau sind Anliegen Westeruopas, und in Moskau lohnt es nicht, nach so etwas überhaupt zu fragen. Dachte ich zumindest.

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außen schrapelig, innen trotzdem teuer: die ‚Produkty‘

Um in dieser Stadt Essen zu kaufen, gibt es grundsätzlich drei Methoden. Entweder geht man auf einen der vielen Märkte – von denen ich anfangs jedoch nicht wusste, dass sie existieren. Oder man geht in einen Supermarkt, von denen ich nicht wusste, wo sie existieren. Möglichkeit drei sind die kleinen ‚Produkty‘-Läden. An jeder Straßenecke zu finden, funktionieren sie wie Kioske, die neben Alkohol auch den täglichen Grundbedarf abdecken. Backwaren, Gemüse, Milcherzeugnisse und zwielichtig aussehendes Fleisch werden zu horrenden Preisen verkauft. Natürlich, die kleinen Geschäfte müssen auch überleben, und Moskau zählt als teuerste Stadt Europas. Beim Umrechnen an der Käsetheke wurde mir dann aber doch leicht schwindlig; die günstigste Sorte kostete das Dreifache eines deutschen Mittelklassekäses.

Vor Schreck kaufte ich nur Brot und Butter, wovon ich mich in der ersten halben Woche ernährte. Dann regte sich meine Lust auf einen Supermarkt, über eine Stunde durchkämmte ich die Straßen und fand ihn schließlich direkt hinter meinem Wohnheim. Von außen eher unscheinbar, eine graue Kiste mit der Aufschrift ‚Супермаркт‘ und dem Namen ‚Азбука Вкуса‘. Deutsch: ‚das Alphabet‘, oder besser: ‚das A und O des Geschmacks‘. Nicht gerade bescheiden. Genauso wenig bescheiden der Empfang: Zwei Anzugträger begrüßen die Einkaufenden zwischen leuchtender Obstauslage und Kaffeebar in Teakholz-Optik. An einem Ständer hängen Taschen aus Jute, darüber steht: ‚Danke, dass Sie auf die Umwelt achten und ökologische, wiederverwendbare Tüten benutzen.‘ Umweltschutz in Russland? Was ist das für ein Supermarkt?

Азбука Вкуса

Die Kette ‚Азбука Вкуса‚ (Azbuka Vkusa) verkauft nur in Moskau und St. Petersburg. In den Städten, die als die ‚westlichsten‘ Russlands gelten und in denen die Menschen mit dem stärksten Einkommen leben. Entsprechend ist auch das Sortiment des Supermarkts: teuer und westlich. So westlich, dass man eine ganze Weile sucht, bis man eine Verpackung mit kyrillischen Buchstaben findet – meistens nur umetikettiert, nicht von einem russischen Hersteller.

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Wiedersehen am Knabberregal: die Nussauswahl von ‚Seeberger‘

Italienische Bio-Spaghetti kosten 7 Euro, bei den Saucen findet man Pesto von Barilla, Kuehne-Senf und die persönlichen Kreationen von Jamie Oliver. Vor einem Meer aus französischem Weichkäse steht ein Schweppes-Turm, über die Backmittel herrscht Dr. Oetker. Allgemein sind deutsche Produkte sehr beliebt: Beim Küchenzubehör treffe ich nur deutsche Pfannen und Töpfe (der teuerste stammt von ‚Fissler‘ und liegt bei 270 Euro); es gibt eine gewaltige Auswahl an Schwartau-Marmeladen, Apfelringe mit dem pfiffigen Namen ‚Sonnentor Bio-(B)Engelchen‘ und sämtliche Nusssorten von ‚Seeberger‘. Die kleine Tüte Studentenfutter: 6 Euro.

Warum werden all diese Produkte importiert, wo es doch viel günstiger wäre, sie im Inland einzukaufen? Natürlich beherrschen westliche Konzerne seit der Wende den post-sovjetischen Markt in weiten Teilen und geben ihn nur ungern wieder her. Aber ‚Азбука Вкуса‘ ist ein russisches Unternehmen und könnte seine Waren über russische Zwischenhändler beziehen, wenn es wollte. Will es aber nicht, und hat damit offensichtlich Erfolg bei der Kundschaft. Dazu zählen nicht etwa reiche Oligarchenkinder, sondern auch Rentner oder junge Familien; Азбука-Filialen stehen auch außerhalb des wohlhabenden Stadtzentrums. Ein Supermarkt der Mittelschicht.

Essen war immer schon Statussymbol: Wer gut speist, kann sich viel leisten. Darum versucht jede Mittelschicht, auch mit ihrem Einkaufverhalten an den Habitus der Reichen anzuschließen. Wenn man bei Азбука kauft, speist man aber nicht nur gut – es gibt ähnlich hochwertige Lebensmittel aus russischer Produktion. Man speist vor allem: westlich. Wer mit Jamie Olivers Sauce kocht und dazu Löwenbräu trinkt, fühlt sich Europa gleich viel näher.

Viele Moskauer_innen haben den Wunsch, in der EU zu leben, oder mindestens auf europäisch Art: italienische Kleidung, deutsche Autos, schwedische Möbel. Im Азбука Вкуса kann man sich europäisch ernähren. Dabei wird die heimische Essenskultur an den Rand gedrängt: Statt russischer Mischungen für Schwarztee, früher ein Nationalgetränkt, blinkt grellgelb Lipton-Icetea. Sonnenblumkerne (семечки) haben zwischen den deutschen Edelnüsschen keinen Platz. Vergeblich sucht man in der ‚Vinothek‘ nach besonderen Weinen aus Moldavien oder Abchasien; stattdessen Spanien, Italien, Frankreich.

Für ein paar (hundert) Rubel mehr bietet dieser Supermarkt nicht nur frische Waren und ein sensationelles Ambiente, sondern auch das Gefühl, weit weg von Russland zu sein. Man merkt – das Vertrauen vieler Moskauer_innen in die eigene Kultur ist schwach. Gleich zu Anfang fragen mich die meisten russischen Kommiliton_innen, wieso im Himmel ich nach Russland gekommen bin. Ganz genau kann ich das nicht sagen. Jedenfalls nicht, um bei Азбука Вкуса einzukaufen.

die Wahrheit liegt auf der Straße

Im Grunde ist es ja viel zu spät. Meine Anreise in Moskau liegt über einen Monat zurück; inzwischen wurde die olympische Fackel halberfolgreich durch die Stadt getragen und der alte Bürgermeister halblegitim wiedergewählt. Alles Spannende liegt also hinter mir.

Darum war die Anfangsidee, ein Moskau-Blog zu führen, eine rein praktische. Ich könnte meine Erlebnisse und Anekdötchen einmalig aufbereiten und müsste Freunden und Bekannten nicht 20 verschiedene, qualitativ stark schwankende Versionen derselben Geschichten unterbreiten. Das ist eigentlich auch weiterhin das Hauptanliegen.
Als ich dann aber über bloggenswerte Inhalte nachdachte, ging mir auf, dass die wirklich spannenden Geschichten immer auch etwas über die russische Gesellschaft erzählen, von einer Mentalität und von Politik. Und nach den Vorfällen in Berjuljovo und der breiten Zustimmung der Moskauer zu nationalen und polizeilichen Aktionen erscheint es umso wichtiger, politisch zu schreiben.

Natürlich bin ich kein bewanderter Russlandanalyst, das können andere besser. Trotzdem gibt es immer wieder Dinge, die mich überraschen: 16-jährige Kommiliton_innen, unbehelligte Anti-Kreml-Konzerte, eine florierende Schwulenszene. Solchen scheinbaren Gegensätze in meinem Russlandbild möchte ich nachgehen. Mit Leuten sprechen. Aufmerksam durch die Straßen gehen. Nicht, dass sich am Ende alle Widersprüche glätten ließen. Aber vielleicht wird so diese Kultur ein wenig verstehbarer.