Freiheit der Demonstranten

Man kennt die Bilder von Anti-Kreml-Protesten: riesiges Polzeiaufgebot, reihenweise Festnahmen, Sicherheitskräfte schlagen auf Demonstranten ein. So war es am 6. Mai 2012, dem Tag vor der erneuten Einführung Vladimir Putins in das Amt des Präsidenten. Zwischen 50 000 und 100 000 Menschen sollen sich an den Protesten beteiligt haben. Am Болотная Площадь (Bolotnaya Platz) eskaliert die Situation: Aus der Menge fliegen Steine, die Polizei und vor allem die Spezialeinheit OMON greifen scharf durch. Viele vermuten hinter den Ausschreitungen regimetreue Provokateure:

„Vor meinen Augen haben Männer in schwarzen Trainingsanzügen und mit schwarzen Masken von hinten die Kette der OMON durchbrochen, haben sich zu den Demonstranten gesellt, Steine geworfen und sind dann wieder hinter den OMON-Leuten verschwunden. Und das mehrfach.“
Сергей Шаров-Делоне/Sergej Sharov-Delaunay, Augenzeuge

Heute sitzen 15 Teilnehmer_innen noch immer im Gefängnis, einige von ihnen nur wenig älter als zwanzig. 9 weitere stehen unter Hausarrest oder dürfen ihren Wohnort nicht verlassen. Die Anklage: ‚Teilnahme an Massenunruhen‚, bei einigen dazu ‚Gewaltanwendung gegenüber Staatspersonen‚. Seit eineinhalb Jahren warten sie auf ihren Prozess. Damit sie nicht vergessen werden, organisiert die Putin-Opposition regelmäßig Veranstaltungen (auf dieser Seite kann man sich auch auf deutsch informieren und spenden). Am vergangenen Sonntag wurde nun zum Protestzug gerufen: „за свободу узников 6 мая! За свободу всех политзаключенных!“ – für die Freiheit der Gefangenen vom 6. Mai; für die Freiheit aller politischen Häftlinge!

Mein Kommilitone Fritz und ich beschlossen, uns anzuschließen; meine erste Demo in Russland stand bevor. Ich war gespannt – welche Leute tauchen dort auf? Wie verhalten sich die Ordnungskräfte? Ist irgendeine Seite womöglich gewaltbereit? Ich überlegte sogar kurz, meine Kamera sicherheitshalber zuhause zu lassen. Als wir um 14 Uhr am Treffpunkt nahe der Metro Puschkinskaja ankamen, standen dort kaum Demonstranten. Dafür umso mehr Polizei, die eifrig Leibesvisitationen durchführte – in Moskau jedoch nichts Besonderes; auf Volksfesten, in Einkaufszentren, Kunstausstellungen gibt man sich gern die Ehre. Nach und nach scharten sich Demonstranten auf dem Platz, es wurden Unterschriften für einen Amnestieersuch gesammelt, die interessierte (kritische) Presse führte Interviews.

Gegen 15 Uhr setzte sich die Menge in Bewegung, inzwischen war sie zu einem recht großen und bunten Haufen gewachsen. Darunter waren Oppositionsparteien (‚Jabloko‘, ‚Partei des 5. Dezembers‘), NGOs wie Amnesty oder Greenpeace, Mitglieder der LGBTI-Szene, die kommunistische ‚Linke Front‘ und zu meiner Verwunderung auch Nationalisten. Und so wurde nicht nur für die Bolotnaja-Gefangenen demonstriert, sondern auch für die Freilassung der Greenpeace-Aktivisten und von Pussy Riot, für Michail Chodorkovskij und den inhaftierten Bürgermeisters von Jaroslavl. Das allgemeine Motto: Freiheit den politischen Häftlingen!

Größere Zwischenfälle gab es nicht, die Polizei hielt sich zurück, OMON-Leute waren kaum zu sehen. Auch die Atmosphäre unter den Demonstranten war entspannt, mit Losungen wurde nach Freiheit und gegen Putin gerufen. An der Metro-Station Чистие Пруды (‚Chistie Prudy‘ – saubere Teiche) ging der Protestzug unspektakulär zu Ende, eine Kundgebung hatten die Behörden nicht erlaubt.
Laut Schätzungen haben über 5 000 Menschen an dem Marsch teilgenommen. Verglichen mit den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen 2012 eher wenig. Aber man muss bedenken, dass es kein konkretes Ereignis gab, welches die Wut der Massen aufgerührt hätte: Alexej Navalnij etwa wurde zuletzt nicht, wie von vielen befürchtet, zu einer langen Haftstrafe verurteilt, sondern kam auf Bewährung frei. Am Sonntag nahm er selbst teil an der Demonstration, die im Übrigen recht kurzfristig und unproblematisch genehmigt wurde. Fährt die Regierung neuerdings auf Kuschelkurs? Auf jeden Fall kann die Opposition solche Veranstaltungen nutzen, um sich ihrer selbst zu vergewissern: 5 000 Menschen, die ohne aktuellen Auslöser einen ganzen Sonntagnachmittag lang durch Moskau laufen, sind am Ende doch nicht so wenig. Man muss sich nur vorstellen, es gäbe einen Anlass wie die Wahlfälschungen im letzten Jahr – und jede/r der 5 000 bringt seine Freunde mit.

Schande Putin

‚Die Gefangenen des 6. Mai – Schande über Putin!‘

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Polizeikontakt während der anfänglichen Sicherheitskontrolle (o. rechts) und beim Info-Service (u. rechts). ansonsten blieben die Einheiten hinter ihren Käfigtüren; o. links langweilen sich zwei Omonovzy. über dem Protestzug kreist ein Helikopter.

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Reporter des unabhängigen TV-Senders „Dozhd“: links geht Timur Olevskij einfach aber effektiv auf live-Schalte, rechts winken Pavel Lobkov und Maria Baronova vom Balkon.

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Greenpeace-Aktivisten verteilen Solidaritätsschiffe aus Papier

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Mitglieder der Linken Front (Левый Фронт)

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amnesty international fordert Gerechtigkeit für die Gefangen vom Bolotnaja Platz

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‚Dekabristen hielten zusammen – so auch jetzt!‘ die Partei des 5. Dezember befindet sich noch im Prozess der Registrierung

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auch Nationalisten mischten sich unter die Demonstrierenden, sie fordern die Freilassung von ihrem Gleichgesinnten Danijl Konstantinov; ihm wird Mord angelastet. hier führen sie Flagge und Wappen der ehemaligen anti-bolschewistischen ‚Don-Republik

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hinter der Polizeiabsperrung wird der Protestzug von ominösen Gestalten gefilmt

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mutige Demonstranten zeigen die Flagge der LGBTI-Bewegung – vor der Zentrale der Ölfirma LUKOIL

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ein Ballon für Evgenij Urlashov, regierungskritischer Bürgermeister von Jaroslavl, derzeit im Gefängnis.

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ein Pinguin (rechts mit Telefon)